Der Kreis Viersen hat sein Archiv nach den Kriterien der Zirkulären Wertschöpfung errichtet. Für die nachhaltige Bauweise gibt es nicht nur bundesweite Aufmerksamkeit, sondern auch Auszeichnungen aus der Fachwelt.
Französische Aktenführung im Standesamt, Gerichtsstätten und Galgen, Miss Germany bei der Freibaderöffnung: Das Archiv des Kreises Viersen steckt voller Überraschungen. Solche Fundstücke, wie auch grundlegende Akten und Pläne, werden dort jetzt modern, sicher und dauerhaft aufbewahrt. In einem neuen Gebäude, das Historie und Moderne nachhaltig kombiniert und wegen seiner Bauweise nach den Kriterien der Zirkulären Wertschöpfung bundesweite Aufmerksamkeit erreicht hat. Für seine Ressourcen- und Energieeffizienz wurde es beim Wettbewerb „Klimaaktive Kommune 2022“ des Deutschen Instituts für Urbanistik (difu) durch Bundesminister Dr. Robert Habeck ausgezeichnet. Die Begründung: Mit dem neuen Archiv habe der Kreis Viersen Maßstäbe gesetzt im Bereich klimafreundliches Bauen.
Die Projektidee: Zirkuläre Wertschöpfung
Zuvor war das „Gedächtnis des Kreises“ in der ehemaligen kurkölnischen Landesburg in Kempen (und verschiedenen Zweigstellen) untergebracht. Es herrschte Platzmangel, es gab gravierende Mängel beim Brandschutz, die Burg war nur sehr schwer zugänglich. Mit einem Neubau wollte der Kreis der Bedeutung des Archivs für die Allgemeinheit gerecht werden. „Das Gebäude, das die Zeugnisse der Vergangenheit sorgfältig aufbewahrt, soll auch sorgsam mit unserer Zukunft umgehen“, sagte der Landrat des Kreises Viersen, Dr. Andreas Coenen. Er überzeugte den Kreistag davon, das neue Gebäude nach den Kriterien der Zirkulären Wertschöpfung zu errichten. „Ausgangspunkt waren für mich ein Vortrag über das Cradle-to-Cradle-Prinzip und ein Besuch im Stadthaus der niederländischen Grenzstadt Venlo, das nach diesem Prinzip gebaut wurde“, so Landrat Dr. Coenen.
Entsprechend wurde die Ausschreibung für den Neubau vorbereitet. Dabei schaltete der Kreis auch das Ministerium für Wirtschaft, Innovation, Digitalisierung und Energie des Landes NRW ein. „Die Viersener hatten eine Idee. Dafür brauchten sie qualifizierte Unterstützung“, erinnert sich Reinhold Rünker vom Ministerium. Er holte die Stiftung „re!source“ mit ins Boot: „Die Gründungsmitglieder der re!source waren die ersten, die die Notwendigkeit der Ressourcenwende und die Kreislaufwirtschaft am Bau thematisierten“, so Reinhold Rünker. So zog der Kreis Viersen Annette von Hagel, Vorständin der re!source und geschäftsführende Gesellschafterin der Circular Building, als Bauherrenberaterin hinzu. Mit Unterstützung von Frau von Hagel wurde die Strategie entwickelt und die wesentlichen Themen für ein erfolgreiches Projekt unter dem Aspekt der Kreislauffähigkeit benannt und umgesetzt:
- durchgängige Digitalisierung und zentrale Datenhaltung
- Building Information Modeling (BIM) und Prozessoptimierungen
- Gebäuderessourcenpass
- Lebenszykluskonzept und Facility Management bei Planungsbeginn
- Auswahl und Einbindung leistungsfähiger Projektpartner
- Rechtssichere Ausschreibungen
- Monitoring der Haustechnik
- Entwicklung von Rückbaukonzepten
- Bewertungssystem Nachhaltiges Bauen
Die Planung des Architekten
Im Wettbewerbsverfahren setzte sich das Büro DGM Architekten aus Krefeld unter 19 eingereichten Arbeiten durch. Der Entwurf überzeugte das Preisgericht mit einem massiven, fensterlosen Magazinkubus, der an einen Berfes, einen für den Niederrhein typischen Wehrturm, erinnert. Für die Feldbrand-Ziegelfassade werden rund 60.000 alte Ziegelsteine aus einem Abrissgebäude wiederverwertet. Im Kubus wird das Archivgut auf vier Etagen sicher und geschützt vor Licht und Klimaschwankungen verwahrt. In einem transparenten, hellen Umringsgebäude aus Holzständerwerk finden sich Büros, Lesesaal sowie Vortrags- und Arbeitsräume.
Auch die Nachhaltigkeitsaspekte überzeugen: Das Gebäude hat weder einen Öltank noch einen Gasanschluss. Energetisch versorgt wird es mit einer Kombination aus Kraftdach (eine Zusammensetzung aus Solarabsorber und PV-Anlage), Eisspeicher und Brunnenanlage. Das Regenwasser wird ebenfalls genutzt. Das gesamte Gebäude dient als Baustoffspeicher. „Die Pläne sind nicht nur architektonisch gut gelungen, sie entsprechen auch unserem hohen Nachhaltigkeits-Anspruch der zirkulären Wertschöpfung“, betont Landrat Dr. Coenen. Das Archiv soll weniger Energie verbrauchen als es erzeugt und einen positiven ökologischen Fußabdruck hinterlassen.
„Der Bau eines Archivs ist mit keiner anderen Bauaufgabe vergleichbar.“
„Die Aufgabe, ein Archiv zu bauen, ist nicht alltäglich und mit keiner anderen Bauaufgabe vergleichbar“, sagt Architekt Bernd Volkenannt. Kontinuierliche Temperaturen, konstanter
Feuchtigkeitsgehalt sowie schwere Lasten müssen bedacht werden. Zudem, so Volkenannt, galt es, gute Arbeitsplätze zu schaffen, die Prozesse zu optimieren und die Wahrnehmung des Archivs in der Öffentlichkeit zu verbessern. Verwendet wurde viel Holz, die Innenwände des Archivs wurden als Lehm-Trockenbau errichtet. Für den rauen Gussasphaltboden wurde Recyclingmaterial verwendet.
Es galt, eine optimale Umgebung für die Archivalien und die Mitarbeiter zu schaffen, das Gebäude als zirkulär im Sinne der Kreislaufwirtschaft zu errichten und dafür die BIM-Planungsweise zu nutzen. „Alles Dinge, die insbesondere auf kommunaler Ebene noch am Anfang stehen. Vieles musste hier zum ersten Mal gemacht werden“, so Volkenannt. Auch die Ausschreibung eines so speziellen Gebäudes war eine zusätzliche Herausforderung; die wenigen am Markt verfügbaren nachhaltigen Bauteile und Materialien müssen produktneutral angefragt werden. „Natürlich haben auch die Corona-Pandemie, Lieferschwierigkeiten und Kostensteigerungen den gesamten Prozess beeinflusst“, sagt Volkenannt.
Viel Lob von Seiten der Archivnutzenden
Vieles ist einfacher geworden im neuen Kreisarchiv, sagt Archivleiter Dr. Michael Habersack. Ein großes Plus für die Arbeitsabläufe ist der groß dimensionierte Aufzug im Magazin ebenso wie die Laderampe, an der Regen sicher Anlieferungen mit einem Hubwagen ausgeladen werden können. Viel Lob gibt es von Seiten der Nutzerinnen und Nutzer, sagt der Archivleiter. Dazu trage neben der Gebäudeatmosphäre und der größeren Zahl an elektronischen Arbeitsplätzen auch bei, dass es neben einem Lesesaal auch Arbeits- und Vortragsräume gibt, die von Gruppen, wie dem Viersener Heimatverein, genutzt werden können. Und natürlich die optimierte Unterbringung der Archivalien.
28.000 Archivkartons mussten umziehen, mehrere laufende Kilometer an Archiv- und Bibliotheksgut fanden im neuen Gebäude ebenso einen neuen Platz wie Geräte aus der Restaurierungswerkstatt und für die Digitalisierung. „Diese Dimension erforderte eine europaweite Ausschreibung mit dem entsprechenden Aufwand“, erinnert sich Archivleiter Dr. Habersack an die gewaltigen Herausforderungen für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Archivs. Doch der Aufwand habe sich gelohnt: „Das Gebäude erhält weiter viel Lob und ist schon mehrfach mit Preisen bedacht worden“, so Dr. Habersack. Und es soll auf Jahrzehnte hinaus auch die künftigen Archivalien beherbergen können: „Die Zuwachsfläche ist auf 30 Jahre hochgerechnet worden.“
Maßstäbe gesetzt für klimafreundliches Bauen
Beim Wettbewerb „Klimaaktive Kommune 2022“ des Deutschen Instituts für Urbanistik (difu) wurde der Kreis Viersen als eine von zehn Kommunen ausgezeichnet. Der Preis wurde in der Kategorie Ressourcen- und Energieeffizienz vergeben. Das zentrale Kreisarchiv kombiniere Historie und Moderne nachhaltig. Der Kreis Viersen habe Maßstäbe gesetzt im Bereich klimafreundliches Bauen. Mit dem Einsatz nachwachsender oder wiederverwerteter Baustoffe würden die baurechtlichen Anforderungen der Energieeffizienz von Neubauten um 45 Prozent unterboten; das Gebäude komme ohne fossile Energieträger aus, heißt es in der Begründung. Der Neubau überzeuge durch seine optimale energetische Planung und Umsetzung nach den Prinzipien der Zirkulären Wertschöpfung. „Die ausgezeichneten Kommunen sind Vorbild dafür, wie mit Klimaschutz mehr Lebensqualität, gutes Zusammenleben und mehr regionale Wertschöpfung vor Ort erreicht werden können“, sagte Dr. Robert Habeck, Bundesminister für Wirtschaft und Klima, bei der Preisvergabe.
„Digitaler Zwilling“ als Vorbild für andere Kommunen
Nach der erfolgreichen Umsetzung des neuen Kreisarchivs setzt der Kreis Viersen jetzt auch bei weiteren Neubauprojekten auf das Prinzip Zirkuläre Wertschöpfung.
„Wir haben viel gelernt bei der Planung und beim Bau des Kreisarchivs“, sagt Jörg Papenkort, Leiter des Gebäudemanagements. „Und diese Erfahrungen fließen in Zukunft in alle Bauvorhaben des Kreises. Das gilt nicht nur für die verwendeten Baustoffe, sondern auch für die Baumethoden.“
Derzeit befinden sich der Neubau des Straßenverkehrsamtes und der Förderschule des Kreises in der entsprechenden Umsetzung. Bei diesen Projekten wird bereits von Beginn an auf das sogenannte „Building Information Modeling“ (BIM) gesetzt. Diese Arbeitsmethodik ist integraler Bestandteil des Planungsprozesses und ermöglicht eine zentrale Projektabwicklung über den gesamten Lebenszyklus eines Bauwerks hinweg. Dabei wird ein sogenannter „Digitaler Zwilling“ erstellt; das virtuelle Gebäudedatenmodell bildet die Grundlage für die Rückbaufähigkeit und die Wieder- bzw. Weiterverwendung einzelner Bauelemente. Damit ist es möglich, den für die Zukunft geforderten Gebäuderessourcenpass zu erstellen. Für diese digitale Methode setzt sich auch der Deutsche Städtetag in seinem Positionspapier „Voraussetzungen für ein kostengerechtes, Termin treues und effizientes Bauen in den Städten“ ein. Bruno Wesch, damaliger Leiter des Gebäudemanagements Kreis Viersen, sagt im Rückblick: „Die Digitalisierung war der Schlüssel. Ohne die umfassende Einführung wäre das Projekt Kreisarchiv gescheitert.“
In Zusammenarbeit mit dem Ingenieurbüro DT BAU – Büro für BIM & Digitale Transformation, unter Leitung von Dipl. Ing. Architekt Jakob Przybylo, in Kooperation mit Prof. Dr. habil. Michael Mai (em. Professor für Informatik und Facility Management an der HTW Berlin) wurden die Bedarfe der Digitalisierung und BIM definiert und in Folge abgestimmt auf die Anforderungen des Projektes entwickelt. Prof. Dr. habil. Michael Mai betont, dass die Digitalisierung einer der wichtigsten Erfolgsfaktoren im Facility- und Immobilienmanagement ist. Es ist entscheidend, dass die digitalen Daten durch die Phasen des Planens, Bauens und Betreibens übergangslos verfügbar sind.
Finanzmanagement: Materialien haben einen Restwert
Schon 2017 stellte Landrat Dr. Andreas Coenen die Projektidee dem Ministerium für Wirtschaft, Energie, Industrie, Mittelstand und Handwerk des Landes NRW vor. Dabei warf er die Frage auf, wie der Wert eines nach den Prinzipien der Zirkulären Wertschöpfung errichteten Gebäudes sowie dessen Inneneinrichtung im Haushalt der Kommune abgebildet werden kann. Er regte an, die Abschreibung lediglich bis zu einem definierten Restwert festzuschreiben, der dem Materialwert des „Rohstoffspeichers“ entspricht.
Diese Anregung führte zu einer Überarbeitung des Kommunalen Finanzmanagements der Bilanzierung von Vermögensgegenständen des Anlagevermögens durch das Land NRW. Künftig soll bei Bauplanungen, die unter Zirkulärer Wertschöpfung erfolgen, die Anlage als sogenannte „Materialbank“ geplant werden. Das bedeutet: Die Materialien haben einen Restwert.
Fazit
Das neue Kreisarchiv ist als Gedächtnisspeicher für den Kreis Viersen Bindeglied zwischen Vergangenheit und Zukunft „Das Kreisarchiv ist eines der ersten kommunalen Gebäude in ganz NRW, das nach den Prinzipien der Zirkulären Wertschöpfung geplant und gebaut wurde. Mit diesem Pilotprojekt kommen wir unseren Nachhaltigkeitszielen ein großes Stück näher, worüber ich mich sehr freue“, sagt Landrat Dr. Andreas Coenen. Im Vergleich zu standardmäßigen Neubauten werden damit etwa 75 Prozent der CO2-Emissionen verhindert. Landrat Dr. Andreas Coenen: „Das Kreisarchiv ist ein Leuchtturmprojekt, das andere Bauherren inspirieren möge, ebenfalls so nachhaltig zu bauen.“
„Der Kreis Viersen ist nach wie vor Vorreiter in Sachen Zirkuläre Wertschöpfung“, sagt Architekt Bernd Volkenannt: „Ich sehe immer wieder Voll-Betonneubauten mit Verbundfassaden (z.B. auch neue, kommunale Schulgebäude), die in Sachen CO2-Einsparung, gesunde Baumaterialien und Kreislaufwirtschaft leider nicht sinnvoll sind. Wir hoffen sehr, dass die große Verantwortung, die die Baubranche beim Thema Klimawandel trägt, bald von allen Beteiligten erkannt wird und auch deren Handeln zukünftig verändert.“
Das neue Archiv wurde am Ransberg in Viersen-Dülken auf einem Gewerbegrundstück der GMG errichtet. Wir freuen uns sehr, dass dieses innovative kommunale Gebäude nach den Prinzipien der Zirkulären Wertschöpfung seinen Platz in Viersen gefunden hat.
Text: Annette von Hagel und Dr. Andreas Coenen.
Fotos: Kreis Viersen / Benito Barajas